Mehr Macht den Plattformen
Zahlreiche Unternehmen machen sich zurzeit bereit, mithilfe der sog. „Plattformisierung“ sowie B2B und B2C, sich zu datengesteuerten Ecosystemen zu entwickeln. Was aber passiert, wenn KI-gesteuerte Plattformen dazu übergehen, Kaufhandlungen von Konsumenten zu automatisieren? Bei der Finovate Europe-Konferenz (im Februar 2020) in Berlin, bereits mit Spannung erwartete Plattform für die besten europäischen Fintech-Unternehmen mit einzigartigen, kurzen Demos, stellte Keynote Speaker Steven Van Belleghem zwei mögliche Zukunftsszenarien für die sog. Plattformisierung dar.
Zusammenfassung
Für die nähere Zukunft sieht Steven Van Belleghem zwei sich möglicherweise entwickelnde Zukunftsszenarien voraus. Das eine beinhaltet zentralisierte Systeme schaffende Mega-Plattformen, die als Gatekeeper und Vertriebsnetzwerk für ein KI-fähiges Verständnis von Kundenpräferenzen dienen. Das andere Szenario fokussiert sich auf Kunden, die über eine nutzerfreundliche automatisierte Schnittstelle direkt auf ihre bevorzugten Brands zugreifen. So z. B. hat Nike in einem gewagten Schritt die Zusammenarbeit mit Amazon zum Ende des Jahres 2019 aufgekündigt, um sich in Zukunft auf „die Steigerung der Kundenerfahrung durch breitere, direkte und persönliche Beziehungen“ zu fokussieren. Die zukünftigen Gewinner des Plattformen-Zeitalters werden die sein, die Datenanalyse am besten zu nutzen, kundenorientierte und kosteneffiziente Partnerschaften mit Dritten zu schmieden und starke Brands aufzubauen wissen, mit denen Kunden in Verbindung treten können.
Die derzeit führenden BigTechs, inkl. Amazon, Tencent und Alibaba, werden den Globus ordentlich durcheinanderwirbeln. Wie konnten sie so mächtig werden?
Steven Van Belleghem: „Die führenden Plattformen von heute waren in der Lage, in drei Punkten zu brillieren. Zum Ersten sind sie extrem auf die Erfüllung von Kundenerwartungen fokussiert. Die chinesischen e-Commerce-Giganten, AliExpress und JD.com, können sogar beinahe in Echtzeit vorhersehen, was Käufer tun oder kaufen werden, sodass ihnen weniger Zeit bleibt, um selbst zu überlegen. Zum Zweiten bieten große Plattformen ausgeklügelte Grade an Personalisierung und können dadurch Kundenbedürfnisse vorhersehen, wenn sie entstehen - oder sogar noch früher. Zum Dritten wurde die Nutzerfreundlichkeit bis in die kleinsten Details optimiert, was sowohl für den Bereich Technologie als auch im Kaufprozess gilt; zum Beispiel durch weniger Schaltflächen, eine große UX (Kunden-Schnittstelle) und kostenlose Lieferung.“
Welche Szenarien sehen Sie am Horizont erscheinen?
„Um diese Frage zu beantworten ist es hilfreich, sich selbst zu fragen, welches Ende, zum Beispiel, Amazon treffen könnte. Die Antwort wäre, sicherzustellen, dass das Endziel daraus bestehen könnte, möglichst viele Transaktionen über seine Plattform laufen zu lassen. In diesem Prozess wird KI helfen, die Dinge für Kunden noch einfacher zu machen. Das weitreichendste Tool wird der Sprachassistent sein, der zurzeit allerdings noch in den Kinderschuhen steckt. Trotzdem werden Kunden eines Tages in der Lage sein, Produkte über einen Sprachbefehl bestellen zu können; und hier kommt die Relevanz der Brandnamen – und die emotionale Verbindung zu ihnen – ins Spiel.“
Können Sie uns ein Beispiel geben?
„Nehmen wir zum Beispiel Zahnpasta. Sagen Sie: ‚Alexa, bestell Colgate-Zahnpasta.‘ So einfach ist das; Alexa bringt Ihnen genau diese Marke. Interessanter wird es, wenn Sie sagen: ‚Alexa, bestell Batterien.‘ Hierauf erhalten Sie dann, a: ‚Batterien der Amazon-Brand‘, b: Batterien von Duracell, die durch den Amazon-Produktfilter wegen der Verfügbarkeit von Duracell-Daten auf der Plattform gekommen sind? Und warum nicht Option c: Warum sind Batterien von Panasonic im Amazon-Produktfilter stecken geblieben? Ist das jetzt wegen eines Mangels an verfügbaren Daten oder etwas anderem? Denn das ist es, was KI tut: es wird zum Filter unseres täglichen Lebens, vergleichbar mit dem Facebook-Algorithmus, der bestimmt, ob wir bestimmte Inhalte zu sehen bekommen oder nicht. Tatsächlich lenken Algorithmen unsere Gedanken in der einen oder anderen Weise, und wenn man genau das auch mit Produkten kann, dann schafft man einen Produktfilter. Und, siehe da: Wenn man sowohl den Filter als auch die Plattform besitzt, hat man eine so mächtige Position wie Amazon.“
Wann kommt die Relevanz von Brandnamen hinzu?
„Sie möchten, dass Menschen explizit nach Ihrer Brand oder Ihrem Produkt verlangen. Darum müssen Sie mehr als zuvor in Branding investieren. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, auch dann eine möglichst starke Beziehung mit dem Endkunden aufzubauen, wenn Sie in einer B2B-Umgebung oder Vermittlungsfunktion tätig sind. Am Ende ist es der Endkunde, der über die Kraft und Relevanz Ihrer Brand entscheidet. Daher gilt: je besser die Beziehung, desto stärker ist Ihre Position als Brand. Und das führt mich zum Szenario Nummer 2: nämlich dem, das den Endkunden am besten umarmt und bedient.
Ende 2019 hat Nike beschlossen, die Zusammenarbeit mit Amazon zu beenden, um sich stattdessen auf ‚die Steigerung der Kundenerfahrung durch breitere, direkte und persönliche Beziehungen‘ zu fokussieren. Ein gewagter Schritt, bei einem Umsatz von 33 Mrd. USD, von dem 11 Mrd. USD alleine durch Webstores und Ladengeschäfte generiert werden. Ich glaube, dass die meisten Unternehmen zu einer Art von Hybridmodell werden, bei dem sie einerseits die großen Plattformen für den Verkauf benötigen und sich andererseits auf den Endkunden fokussieren müssen, um nicht völlig von den omnipräsenten Plattformen abhängig sein werden. Lediglich die funktionalen und emotional stärksten Brands werden wirklich vermisst und daher aktiv nachgefragt werden. Die funktional starken und am meisten Gemochten werden zwar vielleicht nicht aktiv gesucht, aber wegen der guten Bewertungen gefunden; der Rest hingegen wird unsichtbar bleiben und daher verschwinden. Aus diesem Grunde ist es für Brands unerlässlich, eine gute Beziehung zwischen sich und den Endkunden zu pflegen.“
Da wir gerade beim Thema Kunden sind: Jeder, der wissen möchte, wie sich das Kundenverhalten zukünftig gestalten wird, scheint seinen Blick gen Osten zu richten. Was passiert denn gerade in China?
“In China sehen wir die beispiellose Kraft der Kombination aus KI und Internet der Dinge, das sog. AIOT, die Künstliche Intelligenz der Dinge, wie z. B. in der Gesichtserkennungstechnologie; was oft dazu führt, dass Bürger in den Niederlanden, Belgien oder Deutschland sich wegen des Eindringens in die Privatsphäre unwohl fühlen (siehe Box). Das ist nicht überraschend, da Menschen Gewohnheitstiere sind und circa 80 % von den, was sie Essen, tun oder kaufen, größtenteils das Gleiche ist. Hierdurch lassen sich Muster erkennen und entsprechend vorhersehen. Als Ergebnis dessen finden sich Kunden in einer Welt wieder, in der sie kein Teil des Kaufzyklus mehr sind; trotzdem werden bestimmte Käufe ganz einfach an eine Maschine outgesourct: so zum Beispiel an die Waschmaschine, die ihr eigenes Waschmittel bestellt, oder den Samsung-Kühlschrank, der anzeigt, welche Produkte fehlen. Wir betreten zurzeit eine Welt mit weitreichender Automatisierung, in der eine Anzahl an Entscheidungen an eine Maschine abgegeben wurde, ohne dass wir uns noch über etwas Sorgen machen müssen. Klingt das nicht wie Science Fiction? Denken Sie mal an den Tag zurück, ab dem wir lieber auf Navigationsgeräte vertrauten statt auf traditionelle Straßenkarten.“
Was bedeutet Plattformisierung für FS-Unternehmen?
„KI-gesteuerte Plattformen wie z. B. Google Home und Amazons Alexa werden die Art und Weise, in der Verbraucher mit Brands interagieren, komplett umkrempeln. Steven Van Belleghem: ‚FS-Unternehmen, einschließlich die aus dem B2B, sollten sich daher fragen: Welche Vorteile können wir unseren Kunden bieten und was muss getan werden, um dies zu erreichen? Das Wesentliche bei diesem Prozess ist die Frage: Was können wir selbst tun, was outsourcen wir und über was haben wir die Kontrolle? Außerdem müssen FS-Unternehmen sich mit einem Ecosystem aus interessanten kleineren Technologieparteien umgeben, die sowohl die Expertise als auch das Talent dazu haben, die Dinge zu beschleunigen und auf die richtigen Talente zugreifen können. Nicht alles muss gleich ein Projekt von 100 Mio. USD sein. Starten Sie mit den schnellen Erfolgen, die sich für Kunden leicht implementieren lassen, und - vor allem: gehen Sie pragmatisch vor. Meine Rat ist – um es mit Stephen Covey zu sagen – ‚Denken Sie eine Sache zunächst vom Ende her‘ und blicken Sie mit dem Ende zuerst auf einige Dinge zurück: Was brauche ich bereits heute, um auch morgen noch für meine Kunden den Unterschied zu machen?“
Änderung von Kundenverhalten
Bei Stater, dem Hypothekendienstleister aus den Niederlanden, können Endkunden direkt auf die Plattform zugreifen, um ihren Hypothekengeber zu kontaktieren und so eine reibungslosere Kundenerfahrung erwarten. „Sie möchten keine Kunden, die sich beschweren. Der Trend ist unmissverständlich. Wenn Sie nach einem neuen Badezimmer-Wasserhahn suchen, dann besuchen Sie nicht CoolBlue oder bol.com, sondern gehen gleich auf die Website von Grohe; dies ist eine große Veränderung im Kundenverhalten mit weitreichenden Konsequenzen.“ In naher Zukunft werden Finanzprodukte plattformübergreifend gesteuert. So zum Beispiel werden Kunden, statt ein einzelnes Hypothekenprodukt zu kaufen, in enger Partnerschaft mit vertrauenswürdigen Drittanbietern aus dem Häusermarkt ein Haus kaufen können.
Die vielen Gesichter der Gesichtserkennung
Als Weg, die Verbreitung des COVID-19-Virus zu bekämpfen, hat sich eine Anzahl an Ländern hat sich inzwischen der Gesichtserkennungstechnologie zugewandt. In China ist Gesichtserkennungstechnologie inzwischen ein Teil des Lebens dort geworden. Im Dezember 2019 berichtete die Financial Times darüber, dass chinesische Technologieunternehmen, so die dieser Zeitschrift heimlich zugespielten Dokumente, die neuen Standards für Gesichtserkennung und Überwachung für die UN gestalten, um auf diesem Wege neue Märkte für ihre modernen Technologien in Entwicklungsländern zu erobern. Zu den Unternehmen, die Angebote für neue internationale Standards in der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) für Gesichtserkennung, Videoüberwachung sowie Städte- und Fahrzeugüberwachungen machen, gehören angeblich auch ZTE, Dahua sowie China Telecom. Aktuell ist die Datensammelwut von Chinas Regierung grenzenlos. Nach Angaben von Human Rights Watch wird COVID-19 in China dazu genutzt, um dort den permanenten Einsatz von Gesichtserkennungssystemen zu etablieren. In Moskau schreiten die Behörden mit dem Installieren einer der größten Überwachungskamerasysteme voran, die, trotz Protesten von Aktivisten, mit Gesichtserkennungstechnologie ausgerüstet ist (25. März 2020, www.hrw.org). In den USA wird Gesichtserkennungssoftware aufgrund von Bedenken wegen rassistischer Ausrichtung und aus Datenschutzgründen genauer überprüft. IBM hat Anfang Juni dieses Jahres angekündigt, keine Gesichtserkennungstechnologie mehr anzubieten, zu entwickeln oder auf diesem Gebiet weiter zu forschen. Die Kosten für Gesichtserkennungstechnologie beliefen sich im Jahr 2019 weltweit auf geschätzt 3,2 Mrd. USD. Prognosen zufolge werden Unternehmen bis zum Jahr 2024 7 Mrd. USD in diese biometrische Technologie investieren. (Quelle: Forbes, 1. Februar 2020)